Frank DukOwski

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wurde in Wuppertal geboren, arbeitete am Staatstheater, in der Nervenklinik, in engen Kellern, im Baum und im Internet, lebt in Berlin und an anderen Orten und ... glaubt an höhere Mächte. Dieser Blog soll dazu dienen, Geschichten, Gedichte, Fotos und Filmexperimente zu veröffentlichen, kurz: Dinge, die (wenn nicht in Lesungen) bislang kein passendes Podium hatten.

Samstag, 29. Juni 2013


Barbaratag

Ali war ein Kumpel wie jeder andere. Unten im Berg sind alle gleich. Jeder hilft jedem. Jeder gibt was er kann. Kumpel sind so. Immer gewesen. Anders geht’s gar nicht. Im Berg ist hart. Gibt Leute, die das nicht aushalten. In den Achtzigern wurden die Schächte auf eine Teufe von manchmal 2000 Meter niedergebracht. Haufen Erde überm Kopf. Morgens zu wissen: Heute siehst du die Sonne nicht. Licht ist nicht. - nur da wo Kabel liegen, oder so lange die Batterien halten. Sonst ist finster, stockfinster. Stickiges Wetter aus dem Belüftungsschacht, und nur so lange die Maschine läuft. Schön ist was anderes!

„Sankt Barbara, bei Tag und Nacht, 

fahr' mit dem Vater in den Schacht!
Steh Du ihm bei in jeder Not,
bewahr' ihn vor dem jähen Tod!“

Haben die Kinder früher gebetet. Aber der Ali war Türke. Damit hatte er nichts am Hut. Hätte er vielleicht besser mal mitgebetet. Vielleicht hätt’s ja was gebracht. Aber Ali hatte ja Allah. – Wer weiß, vielleicht hätt’s ja was gebracht. Andere haben den Beruf gewechselt. Manche sind sogar zurück, oder haben bei uns Kneipen aufgemacht. Wie die Itakas oder die Jugos, bloß halt für Türken. Die waren ja eigentlich Bäcker oder Bauern und sollten bei uns untertage, nur weil sie gebraucht wurden. – Kamen eigentlich nur wegen dem Geld.

„Warum hier überall so schwarze Würmer?“, hatte Ali den Arzt gefragt. „Fliegen so rum. Wo kommen her? Gestern waren nich so dick! Woher das?“ - Aber da war schon alles zu spät.
Nicht nur der eine Arzt war ratlos. Ali wurde hin und her geschickt. Vom Augenarzt zum Nervenarzt. Vom Nervenarzt zum Internisten. Selbst Hirnforscher von der Uniklinik haben ihm den Kopf durchleuchtet. Aber keiner hat was gefunden. Man hat ihn behandelt, als sei er nicht richtig im Kopf, als würde er sich nur einbilden, dass er immer weniger sieht. Versuche mal einem, der als Bauer in Anatolien aufgewachsen ist, zu erklären, dass er Probleme im Kopf hat. So was bildet man sich nicht ein. Einige haben gesagt, dass er sich das Untertage geholt hat, wie früher die schwarze Lunge, dass er einfach zuviel im Berg war.
Ali ist irgendwann einfach nicht mehr hingegangen, zu den Ärzten. Selbst als er nichts mehr gesehen hat. Das war ihm lieber, als für verrückt erklärt zu werden. Er ging nur noch zum Arzt um die Bescheinigung zu kriegen. Obwohl: Kein Arzt hielt ihn für einen Simulanten. Es war klar, dass er blind wurde. Aber ohne Diagnose fiel er durch die Raster.

Und der Ali war gut als Kumpel, einer der Besten. Den haben sie überredet: „Bist bester Mann. Nix zurück Türkei! - Fortbildung!“
Stollenkoller kannte der nicht. Einmal gab’s für vier Stunden keinen Strom, wie im Sarg. Keine Beleuchtung, keine Bewetterung und die Förderkörbe stehen still. Hans ist danach nie wieder runter, hatte Muffensausen, ist dann in den Tagebau. Ali wollte am nächsten Tag die verlorene Zeit rausholen und ackert wie blöde. Der war nicht traumatisiert, der war sauer. Wer Ali kannte, der wusste, dass er sich da unten nie und nimmer eine Macke abgeholt hat. Da stand der drüber.
Hat ihm aber auch nichts genützt. Gab ja inzwischen immer weniger zu tun. Bald danach wurden die Zechen dann auch dicht gemacht, nach und nach. Aber Ali war ja sowieso ausgefallen, wegen Krankheit. Eigentlich hat man nie wieder was von ihm gehört. Alle dachten, der ist zurück in die Türkei.
Jedenfalls hat er sich die schwarzen Würmer nicht in Bochum geholt, dann schon eher in Anatolien. Er hat da mal so was erzählt. Und warum soll er sich das hier geholt haben? Keiner hier sonst sieht Würmer.

Aber es gibt da eine komische Geschichte, die vielleicht was mit Ali zu tun hat.
Als die Zeche gerade dicht war, gab es direkt die ersten Versuche, von wegen Bergbaumuseum und so. Am ersten Barbaratag nach der Zechenschließung wollte man die Arbeit der Kumpel richtig würdigen. Deshalb wurden die saubersten Bergmannskluften rausgelegt und man veranstaltete Führungen, richtig tief in den Berg, bis zu einer Teufe von 1800 Metern runter. Dabei ist was Komisches passiert.
Bei einer Führung, hat Ostjewski erzählt, wollte unbedingt ein Blinder mit. So richtig mit Taststock und dicker Sonnenbrille. Sprach auch so komisch flüsternd.
„Warum nicht?“ hat Ostjewski gemeint „Lass ihn in meine Gruppe. Ist ja eh dunkel da unten.“
Der Typ war aber nicht nur blind, sondern auch noch irgendwie wackelig auf den Beinen, war blass und hatte irgendwie fleckige Haut.
Und ausgerechnet dieser Typ ist dann auch noch im Stollen verloren gegangen. Der hat sich abgesetzt und ist im Berg verschollen. Wurde nicht an die große Glocke gehängt. Keiner hat Ostjewski je die Schuld gegeben. Wenn einer so was will, dann hindert ihn keiner.

Fast 25 Jahre war Ali auf der Zeche. Seine Kinder wollten gar nicht mehr nach Anatolien. Ali aber schon.
Jedes Jahr ist er runter. Hat in Anatolien ein kleines Haus gebaut, nur in den Ferien. Dann aber die ganzen sechs Wochen, mit der Familie. Hat viel gespart. Und dann kam die Krankheit.
„Schwarze Würmer“ hat er gesehen. Am Anfang nur ganz dünne. Wie wenn man sich die Augen reibt. Aber das wurde schlimmer. Später waren es wohl nicht nur die Augen. Wie bei dem Hund.

Er hat die Geschichte mal erzählt, nach den Ferien. Von dem Hund von seinem Onkel. In dem Dorf waren ja scheinbar alle Männer irgendwie Onkel von ihm.
In der Nähe von Alis Dorf in Anatolien gibt es nämlich so Löcher. Da hat man in der Gegend ganze Städte gefunden, untertage, zwanzig Stockwerke tief. Bis heute weiß man nicht genau, wer die da reingebuddelt hat, ohne Schlaghammer, vor Jahrtausenden. Und Ali wusste gar nicht, dass es so was ganz bei ihm in der Nähe gibt. Bis eines Tages, in den Ferien, der Hund vom Onkel nicht wiedergekommen war. Das war eigentlich der Hofhund, sonst immer an der Kette. Aber der kam wieder, wenn man ihn ab und zu losmachte. Bei Onkel Hassan gab es ja Futter.
Aber einmal kam er nicht wieder, und dann wollte Ali los - also mit seinen Söhnen -  die Töle suchen, jeder in eine andere Richtung. Die „Deutschländer“ hatten ja sonst nicht viel zu tun in den Ferien, außer Verwandtschaftsbesuche und am-Häuschen-mauern, aber nur so lange die Steine reichen.
Irgendwann sind sie also los. Da war der Hund schon zwei Tage weg. Wer das Vieh findet, durfte sich wünschen, wohin man ans Meer fährt für die letzten zwei Wochen.
Ali ist natürlich am weitesten gelaufen, weiter jedenfalls als die Kinder. War wohl auch ganz froh so unterwegs zu sein, mal allein, im Freien. So lief er eine ganze Weile durch die halbe Steinwüste, die die da haben, Mittelanatolien halt. Er kannte die Gegend ja gut. Ist ja da aufgewachsen.
Und irgendwann hört er doch tatsächlich so ein Wimmern, ganz weit weg. Er glaubt erst, das kann doch nicht sein. Hier ist doch nichts. Aber er hat es noch mal gehört, und ist einfach in die Richtung gegangen.
Das Loch war echt nicht groß. Er wäre beinah reingefallen. Grade so groß, dass ein Mensch reinpasste, so zwischen Büschen und Steinen.
Zuerst sah es gar nicht tief aus. Da konnte man rein steigen. Und das Hundewimmern hat er auch wieder gehört, ziemlich tief unten. Also ist Ali rein. Er hat da Stufen gefunden, die gingen wohl recht steil runter. So ganz dunkel war es da noch nicht, aber es wurde dunkler.

Ali war Kumpel und stolz drauf, deshalb hat er sein Geleucht wohl auch am Mann gehabt. Frische Batterien gab es in seinem Dorf aber keine. Und er hatte das Ding auch schon ziemlich oft den Dorfkindern gezeigt, nachts in den Himmel geleuchtet oder an die Berge überm Dorf. Das Licht war wohl schon schwach auf der Brust, aber er hatte seine Lampe wenigstens noch am Gürtel.
Als die steile Treppe tiefer ging, war er also nicht ganz aufgeschmissen. Und diese komische Treppe ging immer tiefer, immer geradeaus und steil runter. Er hat erzählt, das müssen Christen gewesen sein, die den Stollen angelegt haben. Er landete nämlich in einem Raum, der sah aus, wie in einer Kirche, mit Altar und Taufbecken und so weiter. Für ihn muss das wohl gruselig gewesen sein.
Ein Kreuz gab es da nicht. Aber sonst war es wie in einer dunklen Kirche. Mit seiner Funzel hat er den Raum abgesucht. Um den Altar rum waren Bilder an den Wänden, so reingemeißelt. Fische hat er gesehen, mit Schuppen. In Anatolien kriegt man echt selten Fische zu sehn, vielleicht hat er deshalb so lange da die Wände abgeleuchtet. Das Ganze war schon irgendwie komisch. Und von dem Hund keine Spur.
Beim Taufbecken war eine Schwanzflosse in den Stein geschlagen, wie wenn ein Fisch abtaucht und die Flosse guckt noch raus aus den Wellen. Direkt über dem Taufbecken. Zuerst hat er gar nicht bemerkt wie seine Leuchte funzeliger wurde.
Auf einmal hat er sich total erschreckt. Da waren Schatten. Er leuchtet die Wand ab, und es sieht aus, als würde etwas einen Schatten werfen. Aber da war nichts zwischen Lampe und Wand, und doch ist da was vorbeigehuscht oder –geflogen. WAS hat er nicht erkennen können, war ja nur ein Schatten.
Am anderen Ende der Kirche ging es weiter und irgendwann auch tiefer runter. Da gingen Gänge sonstwo hin. Er bekam langsam Angst sich zu verlaufen. Kreide hatte er keine dabei.
Aber als er noch Mal nach der Töle ruft, hört er tatsächlich wieder das Hundewimmern, und geht doch noch weiter. Noch eine Treppe, noch weiter runter.
Da unten wird es irgendwann feucht, so klamm. Er meinte sogar, es hätte fischig gerochen, aber vielleicht hat er sich das auch nur eingebildet.
Da irgendwann hat er gemerkt, dass es dunkler wird. Ersatzbatterien hatte er nicht. Aber der Hund fiepte schon ganz in der Nähe. Er also weiter.
Ein paar Mal hat er auch wieder Schatten gesehen, aber der Schein von der Lampe tanzt sowieso durch den Gang, wenn man beim Gehen hochleuchtet.
Hinter einer Felsnase ging es noch tiefer. Ein ganz enges Loch. Man musste sich bücken um da rein zu kommen. Stockfinster. Er ruft runter und hört ein Winseln. Da unten musste das Tier sein.
Ali hält das Licht rein, aber da ist nichts zu sehen. Schwarz wie Teer. Das Komische war, dass es da unten so schlagartig finster wurde. Das war nicht zu erklären. Wie wenn Nebel im Tal ist, nur schwarz.
Ali geht die Stufen runter und es wird kalt an den Füßen. Kurz danach kann er seine eigenen Knie nicht mehr sehen, obwohl die Lampe noch etwas Saft hat.
Es ist nicht richtig nass aber kalt, nicht dick aber irgendwie klebrig. Und es riecht nach fauligem Fisch. Alles so, dass man sich das noch einbilden kann, aber flau. Wie wenn man bei einer Sache echt schlechte Gefühle hat.
Aber Ali ist tatsächlich da rein gestiegen. Und er hat NICHTS mehr gesehen als er drin ist. Er hat geatmet wie im Dampfbad, aber es war kalt. Und es klebte auf der Zunge. Er tastet sich Schritt für Schritt da durch und hat dann plötzlich vor etwas Weiches getreten. Das Winseln von dem Vieh klang schwach und wie unter Wasser.
Er bückt sich. Unten war das Zeug zäher. Plötzlich beißt es ihm die Hand, beißt sich richtig fest, ist gar nicht mehr abzuschütteln. Dann schlägt ihm was vor den Kopf. Auf einmal stößt ihm was in den Bauch. Er packt den Hund und wälzt sich mit ihm am Boden, um den Biss zu lösen. Dabei tritt ihn was. Als würde man von allen Seiten nach ihm treten, in die Rippen, ins Gesicht, Tritte von überall. Wie die Neonazis. Und der Hund schnappt nach und verbeißt sich noch mehr.
Hin und her geprügelt, geschubst und geworfen, hat er aber doch irgendwie den Weg zur Treppe gefunden.
„Die haben mir an die Beine gezogen, aber ich bin hoch.“ Und als er aus dem schwarzen Zeug rauskommt, hat er den Hund noch im Arm.
Das Tier atmete flach und war inzwischen zu schwach um zu beißen. Die Lampe tat es wieder. Zwar nur so lau, aber immerhin. Und Ali hat nur noch gemacht, dass er da rauskommt, ans Tageslicht. Den Hund über der Schulter ist er durch die Gänge und die Kirche und endlich raus.
Und erst als er draußen ist, sieht er, was mit dem Hund los ist: Das Fell war weiß wie gebleicht aber die Haut da drunter schimmerte schwarz durch. Muss echt gruselig ausgesehen haben. Weiß und schwarz, wie auf alten Fotos. Und das Tier jappst und stiert benommen und die Hundeaugen hatten nichts Weißes mehr.
Von dem Tag an war der Hund vom Onkel Hassan blind. Und keiner wusste warum.

Die Geschichte hat Ali so natürlich keinem erzählt. Den Kindern hat man gesagt, der Hund wäre weg. Vor solchen Sachen muss man Kinder in Schutz nehmen. Die blauen Flecken und die gebrochene Rippe, hat er, - so hat Ali denen gesagt -  weil er unterwegs in ein Loch gefallen ist. Das Loch hat er keinem gezeigt. Besser ist das. Die Familie ist dann ans Meer.
Der Hund ist nicht mehr. Hat es keine zwei Monate mehr gemacht.
So hat er das erzählt. Ein halbes Jahr später kam zum ersten Mal das mit den schwarzen Würmern. Richtig arbeitsunfähig wurde er aber erst viel später. Das ging so langsam, dass er das Loch in Anatolien wohl schon vergessen hatte, im Schichtdieinst.

Ostjewski hat Ali nicht so gut gekannt, aber er meinte, der Blinde den er im Stollen hatte, der hätte irgendswie Ähnlichkeit mit Ali gehabt, außer vielleicht, dass er viel älter gewesen sein muss. Der Schnauzbart und die Haare waren schneeweiß. Ein alter Mann halt, vielleicht Türke. Die Bergmannskluft hat man gefunden, lag ganz unten am Rand einer Sumpfstrecke auf 2000 Metern, wo sich das Grubenwasser sammelt. Da muss der runter sein, allein. Aber der Blinde selber wurde nie gefunden. Führungen gab es danach keine mehr. Das hat gereicht.

So ein Gebet an Sankt Barbara kann jedenfalls nicht schaden. Besser mal eben runtermurmeln. Vielleicht hätt’s ja was gebracht.
Jedenfalls: Der Ali ist weg. Man macht sich so seine Gedanken.
Vielleicht haben sie ihn ja doch noch nach unten gezogen, seine „schwarze Würmer“.

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